OLIWIA HÄLTERLEIN

«Wir sind Magd, Köchin, Frau, Mutter, Tochter, Schwester.
Wir können alles gleichzeitig, umkreisen uns selbst und alle
anderen, bis uns schwindelig wird.
Wir leben im Sand, auf zerriebener Zeit, auf Wegen ohne Spuren.
Wir sind Schwestern und wir sind Töchter und wir sind nicht blutsverwandt.
Wir sind auf Sand gewachsen.
Unter Birken, Kiefern und Trauerweiden.
Wir sind im Sand verwurzelt.
Unsere Verwandtschaft liegt im Sand.»
Interview
Fragen von
Programmleitung und Lektorin
Susanne Krones C.H. Beck

1
Dein Debütroman trägt den Titel „Wir Töchter“.
Wie würdest du ihn, in einem Satz, beschreiben?
Super schwierig!
Wir Töchter, das sind Großmutter, Mutter und Enkelin –
sie wünschen sich zu begegnen und zu verständigen, auch wenn politische Ereignisse, Migration, kulturelle Unübersetzbarkeit und körperliches Trauma sie zu trennen versuchen.
2
Tochterschaft ist ein großes, universelles Thema, das alle Frauen verbindet, viel größer noch als Mutterschaft oder die Frage, was es bedeutet, eine Schwester zu sein.
Und doch wird viel weniger darüber gesprochen und geschrieben, so meine Empfindung.
Warum ist das so und was macht das Thema für dich aus?
Die Idee zum Buch kam vor ein paar Jahren mit der Frage nach Tochterschaft, was ist das überhaupt eine Tochter, eine „gute“ bzw. „schlechte“ Tochter, was hat sie für Rechte und Pflichten? Damit meine ich sowohl auf persönlicher als auch auf politischer Ebene. Bei „Tochter“ schwingt meiner Meinung auch etwas mit, dass eine Schwere hat: Etwas ist in mir, der Tochter, das kann ich nicht ablegen, denn ich bleibe immer die Tochter von … - all das wollte ich erkunden.
Zuerst bin ich stark von mir ausgegangen: Was heißt es laut meiner Biografie, eine polnische Tochter zu sein, die aus einer Bäuer*innenfamilie kommt. Was daran ist unkündbar, was kann ich annehmen aus der Biografie meiner Mutter, meiner Großmutter, und was davon gehört gar nicht zu mir und was darf ich loslassen (Stichwort transgenerationales Trauma)? Mir wurde schnell klar, es gibt keine universelle Definition für Tochterschaft, es sind Tochterschaften, weil es einen Unterschied macht, wann und wo ich geboren wurde, ob ich eine Tochter mit oder ohne Migrationserfahrung bin, ob ich aus einer Bäuer*innen- oder Akademiker*innenfamilie komme, ob ich mehrsprachig sozialisiert bin oder religiös, ob ich ohne oder mit Vater aufwachse, mit Geschwistern, etc. pp. und ob es da ein Bedürfnis nach Mutterschaft bzw. überhaupt die körperlichen Voraussetzungen dafür gibt.
Zum anderen wollte ich die Position der Tochter auch politisch oder aktivistisch einordnen und verstehen: Zuerst einmal, warum wird man überhaupt politisch (welche Rolle spielt dabei die Herkunft und Familie) oder bringt sich aktivistisch in die Gesellschaft ein? Und was den (queer*-)feministischen Diskurs betrifft: In welche Fußstapfen tritt man da heute eigentlich? Oft führte mich die Recherche da zum Thema Hexen. Da es keine stringente feministische Infrastruktur gibt, hat mich besonders interessiert, was und wer wurde vor meiner Zeit erkämpft, errungen, aber auch ausgeschlossen? Mit wessen Erbe umgebe ich mich und welche Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen sind mitzuverantworten? Wer wird heute als Tochter „anerkannt“ und wer „ausgeschlossen“? Welche Rolle spielt dabei der Körper und die Bewertung von „normal“, „gesund“ und „weiblich“ gelesen?
Oft bemerke ich erst aus einer feministischen Perspektive, das bestimmte soziale Rollenzuweisungen gar nicht hinterfragt werden, selbst wenn sie den betroffenen Personen das Leben erschweren. Was bedeutet es für ein Kind in einer Familie eine Tochter zu sein? Welche Auswirkungen hat es im Patriarchat, wenn man weiblich sozialisiert und gelesen wird? Man denke nur an klassische Beispiele, wie: ob (Schwieger-)Tochter oder Sohn die „alten“ (Schwieger-)Eltern pflegt oder welche Erwartungen an Töchter gesetzt werden, wie unterscheiden sich diese von den Erwartungen an Söhne? Bei Marianna beispielsweise gibt es große Unterschiede dazu, wie ihr Bruder erzogen wird, damit zeige ich, was einer Tochter an Arbeit, Bildung, Freiheiten zu- und abgesprochen wird, wie sie mit ihrem Körper umzugehen hat, welche Visionen man für sie hat und in wessen Fußstapfen sie tritt.
All diese Fragen spielen für meine drei Protagonistinnen eine wichtige Rolle, gerade weil alle drei sehr unterschiedliche Tochterschaften erleben. Für mein Buch habe ich mich auf die Aufgaben und (erlaubten) Verhaltensweisen einer Tochter konzentriert, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Gleichzeitig zeige ich in meinem Buch, dass eine Mutter als auch eine Großmutter auch eine Tochter ist und bleibt – was natürlich dieses vereinfachte Denken von „wer soll sich um wen kümmern“, was verlange ich als Tochter eigentlich von meiner Mutter, ohne Rücksicht auf ihre Vergangenheit und Erlebnisse, ergo wann ist man eine „gute Mutter“ etc., noch mehr auf den Kopf stellt. Während des Schreibens wurde für mich klar: Für mich ist die Tochter eine Art Kleber, sie hält zusammen, sie kümmert sich, sie steckt manchmal eben auch fest.
3
Dein Roman erzählt die Geschichte einer Familie über drei Generationen, viele weitere Generationen davor schwingen in der Erzählung mit. Zugleich erzählt er die Geschichte einer Migration. Was macht Migration mit dem Generationengefüge einer Familie?
Meine Protagonistin Róża will etwas „Anderes“, etwas „Besseres“, aber kann sich das in den 80er Jahren in Polen nur aus den Magazinen, die im Peweks liegen und den Geschichten von ausgewanderten Menschen, zusammenphantasieren. Für sie ist es ein Verlassen, zu dem es kein Zurück gibt. Es ist eine Trennung und eine Zeitreise und eine mutige, einsame und traumatisierende Erfahrung. Nicht selten kann so eine Trennung von vertrauten Personen und Orten zu Verlustängsten und Unsicherheit führen, zu Depressionen und Ängsten.
Vielleicht schwer vorzustellen, aber es gab damals kein Internet, kein Handy, die meisten Häuser im Dorf hatten nicht einmal ein Telefon. Es war ein Verschwinden in eine Welt, die man sich imaginierte und es dauerte oft Wochen oder Monate, bis man sich bei den im Dorf „Zurückgelassenen“ gemeldet hat. Auch bedeutet die Migration der Tochter, ein Zurückbleiben ihrer Mutter Marianna. Diese lässt ihre Tochter gehen, im Glauben an ein besseres Leben. Auch Marianna wird später mehrere Wochen und Monate in Deutschland verbringen, sich deutsche Wörter aneignen, dort mitarbeiten, um Tochter und Enkelin zu unterstützen.
Anhand von Interviewgesprächen habe ich mich viel damit auseinandergesetzt, welcher Shift im Status durch eine Migration vollzogen wird, wie man plötzlich einen Platz zugefügt bekommt in einem neuen gesellschaftlichen Gefüge, wie man einer Hierarchisierung von Sprache, Reisepässen und finanziellen Ressourcen unterliegt. Sofort wird Róża ein Stempel von außen auferlegt, eine neue Identität, sie ist „die Polin“ und es gibt nur wenige Jobs für sie: Ehefrau, Putzfrau, Pflegekraft, Saisonarbeiterin.
Mit Trennung meine ich nicht nur eine örtliche oder räumliche, sondern auch eine emotionale und sprachliche, denn eine kulturelle Unübersetzbarkeit tritt ein: Da der Lebensstandard so viel höher eingeschätzt wird und das Geld, das Róża verdient auch permanent in polnisches Geld umgerechnet wird, gilt Róża logischerweise in den Augen des Dorfes als „reich“ und im Status aufgestiegen. In Deutschland aber erlebt sie das Gegenteil. Diese Erfahrungen beispielsweise können nicht übersetzt werden, es ist auch eine Scham da, die Wahrheit zu sagen, wie es sich am eigenen Leib anfühlt, eine Sprache nicht zu beherrschen, putzen zu gehen, sich einsam und gescheitert zu fühlen. Róża hatte als Kind einen festen Platz im Dorfgefüge, als Mädchen wurde sie zur pasionka erzogen, sollte sich vorrangig um die Tiere auf der Weide kümmern. All die Sprüche, die sie ihr Leben lang zu hören bekam, waren sexistisch und zielten darauf, sie unten zu halten. Sie war keine Stadtfrau, es war nicht für sie vorgesehen, eine zu werden. Es war eitel und naiv, fanaberia, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen und Träume und Wünsche zu haben, die sich von dem vorgegebenen Leben unterschieden. Deshalb auch die Scham zurückzukehren, eine Scham, zuzugeben, dass es unfassbar viel Kraft kostet, alleinerziehend „im Westen eine Stadtfrau“ zu werden, die Scham, die Diskriminierungen zu erzählen. Es sind die 80er und 90er Jahre, da gab es keine empowernden Räume und Sprache für Ausländer*innen, keinen Diskurs darum. Es hat sich „natürlich“ angefühlt als Mensch zweiter Klasse kategorisiert zu werden und so zu leben. Erst die Generationen danach haben angefangen zu rebellieren, sich dagegen auszusprechen, die Erfahrungen ihrer Eltern in Kontext zu setzen und auf Diskriminierungen hinzuweisen.
4
Die Geschichte von Marianna, Róza und Waleria wird umwoben von einem Chor der Ahninnen: „Wir leben im Sand, auf zerriebener Zeit, auf Wegen ohne Spuren“, hören wir das Wir in deinem Roman sprechen, „Wir sind auf Sand gewachsen. Unter Birken, Kiefern und Trauerweiden. Wir sind im Sand verwurzelt. Unsere Verwandtschaft liegt im Sand.“
Was ist das für ein Wir, her hier spricht?
So genau kann ich das nicht sagen, aber eine mögliche Erklärung wäre:
Ich sehe das Leben der Protagonistinnen nicht linear, wie auf einem chronologischen Zeitstrahl. Für mich sind die Leben der Protagonistinnen immer schon da und gleichzeitig hier, wie eine liegende Acht oder eine Spirale, etwas Kreisförmiges, wie ein Rondo. Die Protagonistinnen leben nicht im Luftleeren Raum, abgeschnitten voneinander, auch wenn sich das oft für sie so anfühlt.
Die Wir-Stimme, war das Erste, was ich für das Buch geschrieben habe. Da hat sich sofort ein Chor der Töchter als ein Wir positioniert, etwas das zusammenhält, sich aber auch widerspricht. Vielleicht ist es die eigene Komplexität, vor der die Töchter Angst haben? Denn meine Töchter falten sich lieber ganz klein in sich zusammen und zeigen sich nur ungern im Ganzen. Gleichzeitig aber suchen sie sich ständig in den Frauen in ihren Leben, wollen nachahmen, dazugehören, sich abgrenzen und verstehen. Dann kommt das Wir und schmettert einfach alles raus, was an Gefühlen und Schmerzen unterdrückt wurde. Es braucht Mut, diese Dinge auszusprechen und es ist so viel sicherer und auch stärker im Chor. Die Wir-Stimme positioniert sich entgegen all der „Einzelschicksale“ und auch „selber Schuld“-Theorien. Das Wir ist auch die Hoffnung in meinem Text, die Zusammengehörigkeit, die Liebe, auch wenn das kitschig klingt, aber das Wir ist immer da und es gibt einen Kreis der Ahninnen, der hinter und vor und neben den Protagonistinnen steht.
Somit wäre das Wir ein Chor der Ahninnen, gleichzeitig Ur… -Großmutter, Großmutter, Mutter, Tochter, Enkelin, Kind, spricht in und aus der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft, alle(s) gleichzeitig.
5
Walerias Großmutter Marianna, geboren zum Ende des Zweiten Weltkriegs, hat das Leben einer einfachen Bäuerin gelebt. Ein wenig hatte ich das Gefühl, dass ich in deinem Buch eine Zeitreise unternehme. Was hat dieses Landleben in Polen der Kriegs- und Nachkriegszeit für Generationen von Frauen bedeutet?
Es ist mir ein Anliegen das Leben der Frauen zu porträtieren, die immer noch wenig Aufmerksamkeit und Wertschätzung bekommen und zu hinterfragen, welche Errungenschaften von Frauen wir überhaupt als wertvoll und erzählenswert anerkennen. Dazu gehört für mich die Geschichten der Bäuerinnen, denn stark vereinfacht ausgedrückt kann man sagen: Polen war bereits vor dem Krieg ein armes Land (bedingt u.a. durch die vielfachen Teilungen) und besonders die Menschen auf dem Dorf hatten es nicht leicht und entsprechend ihrer zugewiesenen sozialen Rolle fühlten sich die Frauen verantwortlich und taten in der Regel alles, was sie konnten, um ihre Familien zu ernähren und sich um ihre Kinder zu kümmern. Darüber hinaus gab es ein Problem mit der Bildung. Wenn die Mädchen in die Schule gingen, konnte sie nicht im Haus und Hof und auf dem Feld helfen, so dass die Eltern die Notwendigkeit einer weiteren Bildung, insbesondere bei Mädchen, nicht unterstützten. Der fehlende Zugang zu Wissen, der Mangel an Schule, hatte große Konsequenzen für die Mädchen. In meinem Buch beschreibe ich den Alltag von Mädchen und Frauen, von ihren Aufgaben, Ängsten und Träumen. Davon, wie sie bedingt durch ihre soziale Rolle sehr früh mit körperlicher Arbeit beauftragt wurden und bis an ihr Lebensende schufteten. In Polen sagt man, all das hat die Frau na głowie – auf dem Kopf. Ich finde das Bild sehr passend, dieses Gewicht, dass auf dem Kopf der Mädchen und Frauen lastet, das versuche ich zu vermitteln und auch die komplexen Gründe aufzuzeigen, weshalb sie da nur schwer raus kamen.
Es ist herausfordernd ein Landleben zu porträtieren, dass nicht voller Klischee ist, im Hinblick auf Armut und Trauma. Sehr oft wird meiner Meinung nach in Büchern Armut so beschrieben, wie sie mir missfällt, wie sie sich reiche Menschen vorstellen. Was wohl auch daran liegt, dass nur selten Menschen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus schreiben, denn das Schreiben über Armut geht auch mit einer Scham einher. Auch ich möchte auf keinen Fall Antislawischen Rassismus reproduzieren oder ein Bild von „armen Polinnen“ festigen, dass eh schon in den Köpfen vorhanden ist, die Mädchen und Frauen nicht als Opfer oder „ungebildet“ darstellen, sondern die strukturellen Umstände mitskizzieren. Deshalb war es mir wichtig, den Alltag auch historisch korrekt darzustellen, indem ich die Geschichten meiner Mutter und Großmutter historisch kontextualisierte, in Archiven recherchierte, wie die Mädchen damals gekocht, wie gewaschen, wie gebacken und wie geputzt haben. Dabei bin ich in Polen auf ein sehr hilfreiches Sachbuch gestoßen: Chłopki. Opowieść o naszych babkach der Autorin Joanna Kuciel-Frydryszak. Darin schreibt sie u.a. von soziologischen Forschungen, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, die aufzeigen, dass eine Bäuerin 500 Stunden pro Jahr mehr arbeitete als ein Mann. In Kuciel-Frydryszaks Buch habe ich Vieles wieder- bzw. wissenschaftlich belegt vorgefunden, was ich von meiner Familie kenne, und das hat mich darin bestärkt, diese Geschichten erzählen zu müssen.
Außerdem ist die Auseinandersetzung mit „dem Dorf“ ein universelles Thema und gar nicht nur Polen-spezifisch, dass eine bäuerliche Herkunft mit Diskriminierung einhergeht. Selten sprechen Menschen offen über ihre bäuerliche Herkunft. Wenn es um die Herkunft von Arbeiter*innenkinder geht, über die erschwerten Zugänge zu Universitäten, Kunst- und Kultur usw. gibt es einige Studien und mittlerweile auch einen öffentlichen Diskurs. In meinem Buch geht es darum, die Bedingungen aufzuzeigen, die eine Frau hatte und hat und diese Ungleichheiten aufzuzeigen. Sehr gerne möchte ich dem Leben der Frauen auf dem Land, wie dem meiner Babcia, Würde und Respekt zu zollen, ihr Wissen und Stärke sichtbar machen und wertschätzen, was sie trotz alldem geschafft haben, wie viel Schmerz und Kraft gleichzeitig in ihnen steckte und somit auch in uns, den Nachfahrinnen dieser Frauen. Was mir sehr oft in der Recherche begegnet ist und auch in Beziehung mit meiner Babcia: Sie hat nie über ihr Leben gesprochen, hat sich nicht beschwert und keine eigenen Bedürfnisse geäußert. Mit der Konsequenz, dass wenn meine Mutter und ich ihre Geschichten nicht in uns weitertragen und darüber sprechen, dann gerät das alles in Vergessenheit, als ob es sie nie gegeben hätte. Das ist oft das Problem mit den sogenannten „Frauengeschichten“, sie werden nicht vergessen, sie werden nicht einmal erst erzählt.
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Auch Mariannas Tochter Róża ist in dieser Welt geboren und wagt doch, Ende der 1980er Jahre, mit ihrem Kleinkind den Neuanfang in Deutschland.
Wie erleben Róża und Waleria diesen Wechsel zwischen den Welten?
Róża erlebt bereits vorher einen Wandel bzw. durchläuft eine Transformation, denn sie geht vom Dorf in die Stadt nach Gdańsk, bemerkt durch den Stadt-Land Unterschied erst ihren eigenen wortwörtlichen „Stallgeruch“, ihre „grauen“ Klamotten und erlebt dort auch noch Frauen, die sich in der Solidarność, dem Gewerkschaftsstreik an der Danziger Werft, politisch engagieren. Etwas, dass sie von den Frauen im Dorf nicht kennt. Róża blickt auf die Stadt aus einer ganz bestimmten Perspektive, sie erhascht einen Blick auf den Seehandel, auf den geheimen Luxus hinter verschlossenen Türen, hört alle flüstern über „den Westen“, wo es alles gäbe, aber keine langen Schlangen mehr vor leeren Regalen. Sie geht in ein Peweks und sieht dort die Produkte und alles riecht und glänzt so unbekannt und reizend und sie fühlt das erste Mal Plastik und echte Jeans und nimmt sich vor: Sie möchte ausreisen, weg aus dem Dorf. Zuerst einmal aber landet sie wieder in einem „Dorf“: In Friedland. Dort beginnt eine neue Art der Transformation und Róża fühlt sich „dort im Westen“ dörflicher als je zuvor.
Für Waleria, die als 3-Jährige migriert, ist es auf eine andere Art einschneidend und komplex, zum einen wegen der Sprache, die sie gerade beginnt zu sprechen und dann dazu gedrängt wird, sie zu verlernen, in eine neue Muttersprache umzutauschen. Denn das Mehrsprachigkeit heute so als Schlüssel zur Identitätsbildung, familiären Bindung und kulturellen Vielfalt usw. besprochen wird, all das war in den 90ern in Westdeutschland nicht relevant. Ganz im Gegenteil. Da hieß es sich unsichtbar machen und ganz schnell alles ablegen, was nicht deutsch aussieht, klingt, schmeckt, riecht und sich bewegt. Zum anderen ist die Entwicklung einer 3-Jährigen noch stark von ihren Bezugspersonen abhängig und in meinem Buch wird Waleria in das Haus ihrer Babcia Marianna reingeboren und es bricht ihr das Herz, sie zu verlassen. Es ist Walerias erster Herzschmerz.
Ich wollte keine klassische Aufsteiger*innengeschichte erzählen, weil das meiner Meinung nicht der Realität entspricht, dass es linear immer weiter nach oben geht. Ganz im Gegenteil, da gibt es sehr schnell eine gläserne Decke, die erreicht ist und dann ist da Gatekeeping, egal wie viel gearbeitet und geschafft wird, die Aufstiegschancen sind vorbei. Deshalb hat mich die Frage beschäftigt: Wie viel kann man in einem Leben schaffen und das ist im Hinblick darauf, dass Waleria kein Kind will und dann auch keins bekommen kann natürlich relevant. Für wen ist die Migration denn dann (vollzogen worden)? Wer fühlt sich schuldig und verantwortlich? Die Migration der Mutter löst auch Druck auf Waleria aus: Wie kann sie ihr Leben gestalten, ohne dass all das umsonst war, was die Mutter erlebt hat? Es war mir auch wichtig darzustellen, wie man sich fühlt, wenn man seine Muttersprache vergisst, neu erlernen und dann trotzdem weder „polnisch“ noch „deutsch“ wird. Was macht Identität denn alles aus? Außerdem dieser krasse Unterschied zwischen Mutter und Tochter: Waleria wird als Deutsche ernst und wahr genommen und die Mutter bleibt „die Ausländerin“. Was macht es mit der Tochter, die Mutter sprachlich überholt zu haben? In einer Welt, die einen Bias hat, Waleria wird somit als „klüger“ und „deutsch“ wahrgenommen, all das löst Schuldgefühle bei der Tochter aus.
Übrigens wird in Polen erst seit wenigen Jahren und auch nur durch den Verdienst der großartigen Regisseurin und Autorin Marta Dzido, die 2014 den Dokumentarfilm Solidarność według kobiet produziert hat, über die Arbeit der Frauen in der Solidarność berichtet. Bis dahin war es eine Geschichte über Männer. In diesem Film aber werden die Akteurinnen das erste Mal namentlich genannt und erzählen ihre Perspektive und Einfluss auf den Streik.
Außerdem ist die Auseinandersetzung mit „dem Dorf“ ein universelles Thema und gar nicht nur Polen-spezifisch, dass eine bäuerliche Herkunft mit Diskriminierung einhergeht. Selten sprechen Menschen offen über ihre bäuerliche Herkunft. Wenn es um die Herkunft von Arbeiter*innenkinder geht, über die erschwerten Zugänge zu Universitäten, Kunst- und Kultur usw. gibt es einige Studien und mittlerweile auch einen öffentlichen Diskurs. In meinem Buch geht es darum, die Bedingungen aufzuzeigen, die eine Frau hatte und hat und diese Ungleichheiten aufzuzeigen. Sehr gerne möchte ich dem Leben der Frauen auf dem Land, wie dem meiner Babcia, Würde und Respekt zu zollen, ihr Wissen und Stärke sichtbar machen und wertschätzen, was sie trotz alldem geschafft haben, wie viel Schmerz und Kraft gleichzeitig in ihnen steckte und somit auch in uns, den Nachfahrinnen dieser Frauen. Was mir sehr oft in der Recherche begegnet ist und auch in Beziehung mit meiner Babcia: Sie hat nie über ihr Leben gesprochen, hat sich nicht beschwert und keine eigenen Bedürfnisse geäußert. Mit der Konsequenz, dass wenn meine Mutter und ich ihre Geschichten nicht in uns weitertragen und darüber sprechen, dann gerät das alles in Vergessenheit, als ob es sie nie gegeben hätte. Das ist oft das Problem mit den sogenannten „Frauengeschichten“, sie werden nicht vergessen, sie werden nicht einmal erst erzählt.
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Dein Roman arbeitet immer wieder auch mit polnischen Wendungen und Wörtern.
Warum ist dir das wichtig?
Ich schreibe über Polen, wie ich über Polen denke und träume: In beiden Sprachen, im cold-switch, mit ausgedachten grammatischen Endungen, in der ländlichen Küchentischsprache meiner Babcia. Manches entzieht sich auch einer (kulturellen und wortwörtlichen) Übersetzung. Als Schriftstellerin bin ich nicht immer damit zufrieden, was das Wort auf deutsch heißt, oder wie es klingt, auch wenn es „richtig“ übersetzt ist. So fehlt mir bei manchen Begriffen und Redewendungen „das Herz“, oder der Rhythmus passt nicht. Manchmal beginnt für mich auch der Satz oder eine Szene mit einem polnischen Wort, welches meine Protagonistin gesagt bekommt oder sich denkt, dann schreibe ich drumherum und manchmal entscheide ich eben, dass es auch sichtbar drinbleiben muss. Damit spiegle ich auch die Lebens- und Denkrealität meiner Protagonistinnen wider, die sich ja alle irgendwie in diesem Transitbereich der Unübersetzbarkeit befinden.
Manche Begriffe und Redewendungen sind aber auch so zeit- und ortspezifisch, sie lassen sich nicht übersetzen, ohne Kontext. Viele davon sind sexistisch, stark frauenfeindlich, Zuschreibungen oder eben spezifisch für die sozialistische Volksrepublik. Auch die Dokumentation dieser Begriffe ist für mich eine feministische Praxis und wichtig für Veränderungen. Sich erst einmal an einem Begriff abzuarbeiten, ihn zu dekonstruieren, um ihn sich dann anzueignen, abzulegen oder neue Begriffe zu erfinden.
Auch muss ich zugeben, dass ich selbst ein großer Fan davon bin, wenn ich beim Lesen von Texten die Worte einer mir unbekannten Sprache nicht verstehe, denn auch das zeigt mir: Menschen haben unterschiedliche Herkünfte, Mutter- Vater- und Großmuttersprachen und ich kann sie nicht alle verstehen. Ich mag daran, was das Nicht-Verstehen mit mir macht. Es zeigt mir einen Raum auf, den der schreibenden Person, der mich in gewisser Weise ausschließt, mir meine Grenzen des Verstehens aufzeigt. Denn dann kann ich neugierig in Beziehungen und in Erkundungen gehen. Der literarische Umgang mit Mehrsprachigkeit und Unübersetzbarkeit ist für mich ein Merkmal unserer zeitgenössischen Literatur.
Es ist herausfordernd ein Landleben zu porträtieren, dass nicht voller Klischee ist, im Hinblick auf Armut und Trauma. Sehr oft wird meiner Meinung nach in Büchern Armut so beschrieben, wie sie mir missfällt, wie sie sich reiche Menschen vorstellen. Was wohl auch daran liegt, dass nur selten Menschen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus schreiben, denn das Schreiben über Armut geht auch mit einer Scham einher. Auch ich möchte auf keinen Fall Antislawischen Rassismus reproduzieren oder ein Bild von „armen Polinnen“ festigen, dass eh schon in den Köpfen vorhanden ist, die Mädchen und Frauen nicht als Opfer oder „ungebildet“ darstellen, sondern die strukturellen Umstände mitskizzieren. Deshalb war es mir wichtig, den Alltag auch historisch korrekt darzustellen, indem ich die Geschichten meiner Mutter und Großmutter historisch kontextualisierte, in Archiven recherchierte, wie die Mädchen damals gekocht, wie gewaschen, wie gebacken und wie geputzt haben. Dabei bin ich in Polen auf ein sehr hilfreiches Sachbuch gestoßen: Chłopki. Opowieść o naszych babkach der Autorin Joanna Kuciel-Frydryszak. Darin schreibt sie u.a. von soziologischen Forschungen, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden, die aufzeigen, dass eine Bäuerin 500 Stunden pro Jahr mehr arbeitete als ein Mann. In Kuciel-Frydryszaks Buch habe ich Vieles wieder- bzw. wissenschaftlich belegt vorgefunden, was ich von meiner Familie kenne, und das hat mich darin bestärkt, diese Geschichten erzählen zu müssen.
Außerdem ist die Auseinandersetzung mit „dem Dorf“ ein universelles Thema und gar nicht nur Polen-spezifisch, dass eine bäuerliche Herkunft mit Diskriminierung einhergeht. Selten sprechen Menschen offen über ihre bäuerliche Herkunft. Wenn es um die Herkunft von Arbeiter*innenkinder geht, über die erschwerten Zugänge zu Universitäten, Kunst- und Kultur usw. gibt es einige Studien und mittlerweile auch einen öffentlichen Diskurs. In meinem Buch geht es darum, die Bedingungen aufzuzeigen, die eine Frau hatte und hat und diese Ungleichheiten aufzuzeigen. Sehr gerne möchte ich dem Leben der Frauen auf dem Land, wie dem meiner Babcia, Würde und Respekt zu zollen, ihr Wissen und Stärke sichtbar machen und wertschätzen, was sie trotz alldem geschafft haben, wie viel Schmerz und Kraft gleichzeitig in ihnen steckte und somit auch in uns, den Nachfahrinnen dieser Frauen. Was mir sehr oft in der Recherche begegnet ist und auch in Beziehung mit meiner Babcia: Sie hat nie über ihr Leben gesprochen, hat sich nicht beschwert und keine eigenen Bedürfnisse geäußert. Mit der Konsequenz, dass wenn meine Mutter und ich ihre Geschichten nicht in uns weitertragen und darüber sprechen, dann gerät das alles in Vergessenheit, als ob es sie nie gegeben hätte. Das ist oft das Problem mit den sogenannten „Frauengeschichten“, sie werden nicht vergessen, sie werden nicht einmal erst erzählt.
8
Das Worte fehlen, das erlebt man nicht nur im Transitraum zwischen zwei Sprachen.
Frauen erleben es auch, weil es für ihre Bedürfnisse, ihre Körperteile und die Vorgänge in ihren Körpern oft keine oder nur tabusierte Begriffe gibt.
„Mir fehlten die Worte dafür, was ich fühlte“, so beschreibt es Waleria, als sie in der Gynäkologie gebeten wird, ihre Beschwerden zu beschreiben.
Was macht diese Sprachlosigkeit mit Frauen?
Wenn ich etwas nicht benennen kann, dann gibt es das auch nicht. Wenn ich mich nicht mitteilen kann, kann ich mich nicht austauschen und es wird zu einem einsamen und einmaligen Ereignis. Wenn wir nicht wissen, was wir „da unten“ haben, dann können wir uns auch nicht um „das da unten“ kümmern und herausfinden, was wir beispielsweise für Beschwerden oder Bedürfnisse haben. Wenn wir aber Dinge benennen können und uns dazu austauschen, dann merken wir plötzlich, „oh, das liegt nicht nur an mir“ bzw. „ich bin ja doch ganz normal“ oder „mein Körper sendet Signale, die darf ich ernst nehmen!“ – und dann wird es zu einer strukturellen Sache, es wird plötzlich gesellschaftlich relevant, man bemerkt Ungleichheiten und damit wird das Private auch politisch.
Ich habe mich die letzten Jahre viel mit den Mythen rund um Vulva und Vagina und auch dem gender health gapbeschäftigt und es ist skandalös, welche Leerstellen es in Medizinbüchern und auch in unserem Sprachgebrauch gibt. Es dominieren sexistische Begriffe und Interpretationen, die das Ungleichgewicht der Geschlechter manifestieren. Die Medizin ist nicht „objektiv“ – sie unterliegt in ihrer Forschung und Diagnose dem Androzentrismus, das bedeutet „der Körper des Standartpatienten“ ist der Körper eines weißen cis Mannes. Wen das alles ausschließt und welche Organe und Beschwerden, das können wir uns alle vorstellen. Es ist unfassbar, wie viel aktivistische und unbezahlbare Arbeit dazu Frauen und queere Menschen seit Jahrzehnten betreiben, um das zu verändern.
Waleria beispielsweise hat eine Erkrankung an den Eierstöcken, von der wenig bekannt ist, auch wenn sie gar nicht so wenige Menschen betrifft: Das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS). Sie leidet, seit sie denken kann, an unfassbaren Beschwerden während ihrer Menstruation oder an unerklärlichem Ausbleiben der Blutung. Die Diagnosen bleiben aus, sind von vielen „wahrscheinlich“ und „eventuell“ geschmückt und oft wird als Lösung der Hormonstörung eine Schwangerschaft vorhergesagt. Obgleich diese mit dem Syndrom fast unmöglich zu sein scheint. Außerdem wird ihr Schmerz nicht ernst genommen, als ob es das Schicksal der Frauen sei, Leid zu ertragen. Da schwingt auch eine Härte mit, bzw. ein medical gaslighting. Meiner Meinung nach hilft dagegen nur der Austausch unter Betroffenen und Erlebenden, sich über die persönlichen Empfindungen und Erfahrungen zu beispielsweise Menstruation, Schwangerschaften, (Fehl-)Geburten, Stillen etc. Das führt nicht selten dazu, dass wichtige Informationen geteilt werden, die helfen, sich selbstbestimmt mit dem eigenen Körper und den Entscheidungen rund um Gesundheitsfürsorge und (A-)Sexualität auseinanderzusetzen.
9
Weibliche Unfruchtbarkeit als Tabuthema.
Was bedeutet es für Waleria, dass ihr Körper die Geschichte ihrer Familie nicht
wird weitererzählen können, dass sie nicht Mutter werden wird?
Zum einen möchte Waleria verstehen, warum sie kein Bedürfnis hatte, Mutter zu werden. Ein Bedürfnis, dass auch stark tabuisiert wird in unserer Gesellschaft: Die gewählte Kinderfreiheit. Ich möchte zeigen, dass Waleria sich trotzdem schuldig fühlt für diese Entscheidung und fast schon einem magischen Denken gleich vermutet, sie habe es ihrem Körper „angetan“, sich selbst unfruchtbar gemacht, dass es keine Tochter nach ihr geben soll. Auch möchte ich die die ambivalenten Gefühle aufzeigen, wenn etwas selbst entschieden wird vs. wenn einem die Entscheidung abgenommen wird, durch die körperlichen Voraussetzungen.
Auch ist die Unfruchtbarkeit eine Metapher bzw. ein Weiterdenken gegen das Bild der linearen aufstrebenden Migrationserfolgsgeschichte. Vermutlich würde man denken: Die Mutter hat so Vieles auf sich genommen, um sich und ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Wie kann sich Waleria jetzt dankbar zeigen, welchen Lebenslauf sollte sie haben? Es lastet eine Verantwortung auf der Tochter. Da ist es fast schon tragisch-ironisch, dass es nach ihr keine Tochter geben wird. Für wen ist all das geschehen, wenn es mit ihr aufhört? Sollte es ab hier nicht erst richtig losgehen?
Daran knüpfen viele spannende Fragen an, wie: Warum Frauen Kinder bekommen? Um etwas von sich weiterexistieren zu lassen? Um etwas zu teilen, vererben? Waleria hat die Entscheidung getroffen, die Geschichten ihrer Mutter und Großmutter nicht weiterzuvererben, was alles geht damit in Vergessenheit?
Auch wichtig ist mir zu zeigen: Waleria hat Mutterschaft nicht als Glück beobachtet oder von ihrer Mutter vermittelt bekommen, sie hat in Erinnerung, wie belastend es für ihre Mutter war, alleinerziehend mit einem Kind in einem Land zu leben, in dem sie arm und überfordert war, Mensch zweiter Klasse. Das hat sie und ihren Körper geprägt.